Telemedizin - ein wichtiger Baustein auf dem Weg zum digitalen Gesundheitswesen.

Das MP Expertengespräch zu den Entwicklungen im Schweizer Gesundheitswesen mit PD Dr. Oliver Reich, Leiter von santé24, dem telemedizinisches Zentrum mit Praxisbewilligung, der SWICA Gesundheitsorganisation.


Herr Dr. Reich, bis vor kurzem war für Patienten der Gang in eine Arztpraxis unumgänglich, wenn sie ein Arztzeugnis oder Rezept für Medikamente benötigten. Heute sind in der Schweiz bereits 13% der Bevölkerung in einem Telemed-Modell versichert und nutzen telemedizinische Leistungen. (1). Wie haben sich die Bedürfnisse Ihrer Patienten während der Pandemie verändert? Zahlreiche Menschen sind stark verunsichert, wir bekommen viele Anfragen zur Bewertung von möglichen Symptomen. Als eins der ersten Unternehmen haben wir einen Fragebogen zur Einschätzung einer allfälligen Erkrankung online zur Verfügung gestellt. In Ergänzung bieten wir Selbstbehandlungsempfehlungen, die wir auf der Basis der vom BAG empfohlenen Schritte erarbeitet haben. Für Personen, die isoliert sind oder sich in Quarantäne befinden bieten wir eine Begleitung in Form einer täglichen Kontaktaufnahme an. Gerade alleinstehende Personen schätzen diese Möglichkeit, da sie Sicherheit vermittelt und gegen die Einsamkeit wirkt. Ausserdem sind andere Krankheiten oder Beschwerden nicht plötzlich verschwunden! Doch viele Patienten möchten in diesen Corona-Zeiten nicht zusätzlich die hausärztlichen Praxen belasten. Interessant ist, dass nur rund 40% aller Anrufenden bei santé24 in einem Telemed-Modell versichert sind, alle übrigen nehmen unser Angebot freiwillig in Anspruch.


Welchen Einfluss haben diese neuen Anforderungen auf das Angebot von santé24? Im Sinne der SWICA Strategie unterstützen wir Angebote für die Handlungsfelder «gesund sein», «gesund werden» und «mit Einschränkungen gut leben». Krisen verstehen wir als Innovationstreiber. Im Gesundheitswesen erwarten wir die Verstärkung der folgenden Trends:«From Visit Care to Virtual Care», dazu zählen die Online-Sprechstunden, virtuellen Beratungen wie Online Patient Communitys und sogenannte Wearables, die bereits heute in Form von Fitnessarmbänder stark verbreitet sind. Verstärkt wird auch der Ansatz «From Health Care to Self-Care», d.h. die Bereitschaft, Verantwortung für die eigene Gesunderhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit zu übernehmen. Ein schönes Beispiel dafür ist, dass in der Pandemie neu eingeführte Online-Training für den Umgang mit psychisch belastenden Situationen. Die Kunden können online selbständig arbeiten, bei Bedarf werden sie durch unsere Psychologen und Psychiater begleitet.


Effizienzsteigerung und Kostenein­sparungen durch die Digitalisierung werden im Schweizer Gesundheitswesen erst teilweise genutzt. Wo sehen Sie das Entwicklungspotential der telemedizinischen Leistungen? Die Digitalisierung im Schweizer Gesundheitswesen hinkt tatsächlich anderen Bereichen hinterher. Dabei sind aussagekräftige und gut vernetzte Daten unverzichtbar für eine qualitativ hochstehende Gesundheitsversorgung, auch das hat uns die Pandemie vor Augen geführt! Wir bieten unseren Kunden, als erste Krankenversicherung in Europa, das Telemedizingerät TytoHome an (2). Damit können Versicherte sieben verschiedene Untersuchungen ortsunabhängig selbst vornehmen. In Kombination mit der dazugehörigen App übermittelt es medizinischen Fachpersonen oder Ärzten von santé24 Informationen, Bilder oder Töne und ermöglicht eine telemedizinische Beurteilung der Symptome. Bei Bedarf kann sich eine medizinische Fachperson mittels Mobile telefonisch oder per Video mit dem Nutzer unterhalten. Diese Innovation ist eine wichtige Ergänzung zu den bereits von Swica eingesetzten Gesundheitsapps Benevita und Benecura. Ich bin überzeugt, dass es weitere Services braucht, so dass das Ganze für die Kunden lebendig wird und auch bleibt!


Welche Rahmenbedingungen braucht es, damit sich die Telemedizin in der Schweiz positiv weiterentwickeln kann? Damit sich etwas bewegt, sind Ökosysteme mit motivierten Partnern und guten Ideen notwendig. Voraussetzung für eine solche Zusammenarbeit ist gegenseitiges Vertrauen und der gemeinsame Wille, die medizinische Versorgung neu zu organisieren. Auf der strukturellen Ebene sind entsprechende Aus-, Weiter- und Fortbildung des medizinischen Fachpersonals, Qualitätszertifizierungen von Telemedizin-Anbieter und eine Verbreitung des e-Patientendossiers und der e-Rezepte notwendig. Digitalisierung in der ambulanten Gesundheitsversorgung.hin zu einer umfassenden Betrachtung von Gesundheit. Träumen darf man ja!


(1)  Digitalisierung in der ambulanten Gesundheitsversorgung. T. Zingga, R. Sojerb, F. Röthlisberger. Schweizerische Ärztezeitung, Beitrag 2019, 05.

(2)  www.swica.ch/de/private/gesundheit/medizinische-hilfe/telemedizin/tytohome



PD Dr. Oliver Reich, ist Leiter santé24 bei der SWICA Gesundheitsorganisation und Mitglied der Direktion. Studium der Betriebsökonomie; Nachdiplomstudium Executive Master of Health Service Management; Promotion mit Schwerpunkt Public Health und Habilitation an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich. Unternehmensberater bei Accenture; diverse Funktionen in den Bereichen Managed Care, Gesundheitsökonomie und -politik sowie Leiter Gesundheitswissenschaften bei Helsana; Vorstands- und VR-Mitglied Spitex Zürich Limmat AG und Vorstandsmitglied beim fmc, dem Schweizer Forum für Integrierte Versorgung.